Gutachter im Landtag Rheinland-Pfalz: Landesamt warnte spät und uneindeutig vor Ahr-Hochwasser

Staatssekretär Manz: kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem vor Ort

Das Landesamt für Umwelt (LfU) Rheinland-Pfalz hat nach Einschätzung eines Sachverständigen am Tag der Flutkatastrophe im Sommer 2021 spät und „nicht konsistent“ vor dem Hochwasser gewarnt. Die Pegel-Prognosen seien relativ spät gekommen und hätten dann noch das Ausmaß unterschätzt, sagte der Gutachter Thomas Roggenkamp vom Geographischen Institut der Universität Bonn am Freitag im Landtags-Untersuchungsausschuss Flutkatastrophe in Mainz. Dies könne dazu geführt haben, „dass das Hochwasser bis zuletzt unterschätzt wurde“.

Umwelt-Staatssekretär Erwin Manz (Grüne) hat vor dem Untersuchungsausschuss des rheinland-pfälzischen Landtags erneut sein Handeln während der Flutkatastrophe im Ahrtal verteidigt. Das dem Ministerium unterstellte Landesamt für Umwelt (LfU) habe am 14. Juli 2021 um 17.17 Uhr die höchste Warnstufe für die Ahrregion ausgerufen. „Leider hat es noch sechs Stunden gedauert, bis der Landkreis Ahrweiler den Katastrophenfall ausgerufen hat“, sagte Manz am Freitag. Das LfU habe an dem Tag alle vorliegenden Erkenntnisse bekannt gemacht. „Es gab kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem vor Ort“, sagte Manz.

Frühere LfU-Präsidentin: Kreis
war am Nachmittag informiert

Nach Angaben der damaligen LfU-Präsidentin war der Kreis Ahrweiler bereits am Nachmittag von dem Amt über die extrem hohen Pegelprognosen informiert worden. „Es gab zu keiner Zeit einen Anlass anzunehmen, dass die für den Katastrophenschutz zuständigen Stellen nicht über die Warnung unterrichtet waren“. Das LfU habe keinerlei Kompetenzen, Vorschläge zur Gefahrenabwehr zu machen, betonte Riewenherm. „Wir wissen nicht, was vor Ort mit den Pegelprognosen passiert.“ Es sei aber aus Nachfragen klar gewesen, dass die Warnung im Kreis Ahrweiler angekommen sei.

Roggenkamp sagte, die höchste Warnstufe 5 warne auch nur vor einem Hochwasser, das seltener als alle 50 Jahre vorkomme, sei also nach oben völlig offen. Schon einige Stunden früher habe die Prognose für den Pegel Altenahr aber bei fünf Metern und damit bereits um 1,30 Meter über dem Pegel 2016 gelegen.

Erst um 17.17 Uhr sei klar gewesen, dass sich in extremes Hochwasser entwickelt, sagte Norbert Demuth vom LfU. Anders als beim „Jahrhunderthochwasser“ 2016 an der Ahr hätten sich die Ereignisse im Sommer 2021 „außerhalb des planbaren Hochwasser-Schutzes bewegt“, sagte der Direktor des Instituts für Wasserbau und Wasserwirtschaft der Rheinisch-Westfälische Technischen Hochschule Aachen (RWTH), Holger Schüttrumpf. 2016 und 2021 seien völlig unterschiedliche Hochwasser gewesen.

„Blinder Fleck“ bei Pegelstrukturen

Roggenkamp verwies auf ähnliche Hochwasser 1804 und 1910 und betonte mit Blick auf die Niederschlagsmengen, das „Potenzial“ für Ahr-Hochwasser sei wahrscheinlich auch 2021 „noch nicht ganz ausgeschöpft“ worden. Schon 2016 sei klar geworden, dass es auch wegen der zahlreichen Ahr-Nebenbäche „einen gewissen blinden Fleck“ bei den Pegelstrukturen gebe, sagte Roggenkamp. „Das hätte man danach berücksichtigen können“, sagte der Bonner Sachverständige. Die Gefahreneinschätzung im Vorfeld des Hochwassers sei viel zu gering gewesen. Die Flutkatastrophe habe das Hochwasser von 2016 um den Faktor Vier bis Fünf übertroffen. „Und 2016 war keine Kleinigkeit“, betonte Roggenkamp. Schon damals hätten Menschen mit dem Hubschrauber von einem Campingplatz gerettet werden müssen, Tote habe es aber nicht gegeben.

Die „schieren Wassermassen“ seien eine Ursache der Flutkatastrophe im vergangenen Sommer mit mindestens 134 Toten gewesen. So habe die Abflussgröße der Ahr in der Juli-Nacht bei 1.000 bis 1.200 Kubikmeter pro Sekunde gelegen, 2016 seien es nur 236 Kubikmeter gewesen und normalerweise nur etwa sieben Kubikmeter.

Die zahlreichen Nachbarbäche der Ahr
verstärkten die Flutkatastrophe

Eine andere Ursache seien die Verklausungen von Treibgut, also Verstopfungen an Brücken, gewesen. Dazu kämen die zahlreichen Nachbarbäche der Ahr, sagte Roggenkamp. Die überraschend hohe Fließgeschwindigkeit der Ahr sei noch dazu gekommen. Sie betrage normalerweise einen halben Meter pro Sekunde, in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli seien es aber drei bis fünf Meter gewesen. Das entspreche bis zu 13 Kilometern pro Stunde.

Auf die „extreme Geschwindigkeit“ von mehreren Metern pro Sekunde gebe es an der Ahr viele Hinweise, sagte auch Schüttrumpf. Auf einem der Handyfotos aus der Flutnacht, die Innenminister Roger Lewentz (SPD) nach eigenen Worten vorlagen, sieht der Hydrologie-Professor anhand von Farben und Schlieren eine solche hohe Fließgeschwindigkeit. Die Fotos zeigten ein Überschwemmungsgebiet, das sich mit den Hochwasser-Karten hätte vergleichen lassen. Allerdings sei es in engen Gebieten schwerer eine Aussage zu treffen als in breiten Flussgebieten. Auch auf den erst kürzlich bekannt gewordenen Videos eines Polizeihubschraubers aus der Flut-Nacht sind Schüttrumpf zufolge die extrem hohe Strömungsgeschwindigkeit, extrem hohe Wasserstände und überströmte Brücken zu erkennen.

Rund 80 Prozent der 114 Brücken seien bei der Flutkatastrophe zerstört worden und einige komplett eingestürzt, sagte Schüttrumpf. Dazu kämen die Verklausungen der Brücken durch Baumstämme, Campingwagen, Gartenhäuser, Autos, Möbel und Öltanks. Allgemein lasse sich dazu sagen: „Bäume sind die Nummer eins.“ Denn: Je länger die Baumstämme, desto größer die Verklausung. Zudem hätten die gesättigten Böden zu der Flutwelle geführt.

Großes Defizit bei kleinen und
kleinsten Einzugsgebieten

„Es war klar, dass ein Hochwasser kommt“, sagte Schüttrumpf mit Blick auf die vom Deutschen Wetterdienst (DWD) vorhergesagten 200 Milliliter Niederschlag pro Quadratmeter. Der DWD warne aber vor Niederschlag und nicht vor Hochwasser-Ereignissen. Dazu kämen die Pegel-Messungen und -Warnungen. Allerdings gebe es in Deutschland ein großes Defizit bei kleinen und kleinsten Einzugsgebieten, weil Methoden und Verfahren dafür fehlten. Für diese Gewässer fehle das entsprechende Frühwarn-System. (dpa)  ...

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