IGB: Naturnaher Hochwasserschutz ist wichtiger Teil der Lösung

„Schutz von Feldern und Äckern erhöht Gefahr für Städte und Infrastruktur“

Die aktuellen Hochwasserereignisse machen nach Auffassung von Forschenden des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) deutlich, dass beim Hochwasserschutz ein Umdenken erforderlich ist. Statt allein auf bauliche Maßnahmen wie Deiche oder künstliche Rückhaltebecken zu setzen, sollten verstärkt naturbasierte Lösungen (nature based solutions, NbS) zum Einsatz kommen, teilte das IGB mit. Diese Lösungen seien meist multifunktional, d.h. sie dienten verschiedenen gesetzlichen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Zielen gleichzeitig – im Falle der Flussauen etwa der Klimaanpassung, der Erholung, dem Naturschutz oder der Biomasse-Erzeugung.

Maßnahmen wie die Revitalisierung von Flüssen, Auen, Feuchtgebieten, Mooren und Wäldern oder die Entsiegelung von Flächen verbesserten den Wasserrückhalt in der Landschaft und damit die Widerstandsfähigkeit gegenüber Hochwasserereignissen – aber auch gegenüber Dürren und Trockenperioden.

Technischen Hochwasserschutz
vor allem auf Siedlungsgebiete
beschränken

Technische Hochwasserschutzmaßnahmen wie Deiche sollten dagegen vor allem auf Siedlungsgebiete beschränkt werden, aber nicht zum Schutz landwirtschaftlicher Flächen dienen. „Der Schutz von Feldern und Äckern vor Hochwasser erhöht die Hochwassergefahr für Städte, Siedlungen und wichtige Infrastruktur“, erklärte der IGB-Auen-Forscher Martin Pusch. Deshalb sollten Deiche zurückverlegt und zusätzliche Überflutungsflächen geschaffen werden. Landwirtschaftliche Flächen, die in den Auen liegen, wären dann zwar nicht mehr geschützt, könnten aber immer noch als Weideland oder zur Erzeugung von Biomasse genutzt werden – beispielsweise durch den Anbau von Kulturpflanzen, die kaum Dünger benötigen.

In den Niederlanden, die seit Langem führend im Wasserbau seien, werde dieses Prinzip im Rahmen des Programms „Raum für den Fluss“ großflächig umgesetzt. In Deutschland würden dagegen nur relativ wenige Deichrückverlegungen durchgeführt, sodass die aktive Auenfläche im Zeitraum 2009 bis 2020 nur um 0,1 Prozent pro Jahr vergrößert werden konnte, kritisiert das IGB. „Die meisten Gelder werden hierzulande immer noch in Deicherhöhungen und Deichverstärkungen investiert“, so Pusch.

Hochwasserschutzprogramm
bleibt hinter den Erwartungen zurück

Mit dem Nationalen Hochwasserschutzprogramm (NHWSP), das Bund und Länder nach den großen Hochwasserschäden des Jahres 2013 beschlossen hatten, um den natürlichen Hochwasserrückhalt zu koordinieren und zu beschleunigen, könnten die Hochwasserstände auf weiten Strecken um 10 bis 50 cm gesenkt werden, erläutert das IGB. „Leider soll der Hochwasserrückhalt jedoch zu zwei Dritteln durch neue Polder und nur zu einem Drittel durch naturnahen Hochwasserrückhalt wie Deichrückverlegungen erreicht werden“, erklärte Pusch. Von den 168 raumbedeutsamen Teil- und Einzelmaßnahmen des NHWSP befänden sich 66 und damit 39 Prozent in der Konzeptionsphase, 46 bzw. 27 Prozent in der Vorplanung, 18 bzw. elf Prozent in der Genehmigungs- bzw. Vergabephase und 26 bzw. 15 Prozent in der Bauphase.

Naturnaher Hochwasserschutz
funktioniert unabhängig von der
behördlichen Entscheidungskette

Die Forscherinnen und Forscher des IGB empfehlen daher, vorrangig einen kosteneffizienten und multifunktionalen naturnahen Hochwasserschutz umzusetzen. Deichrückverlegungen böten ein breiteres Spektrum an Ökosystemleistungen als die Einrichtung technisch gesteuerter Polder, die nur selten geflutet werden und der naturnahe Hochwasserschutz funktioniere unabhängig von der behördlichen Entscheidungskette. Die für diese Deichrückverlegungen benötigten Flächen sollten in der Regional- und Flächennutzungsplanung reserviert werden. Betroffene Landwirtinnen und Landwirte könnten über Flächenpools und Flurbereinigungen entschädigt werden, schlägt das Institut vor.

„Nur mit einem solchen ganzheitlichen Ansatz können wir den Herausforderungen des Hochwasserschutzes langfristig begegnen und gleichzeitig die natürlichen Lebensräume an unseren Fließgewässern erhalten“, erklärte Pusch. Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegten, dass es sinnvoll sei, Auen zu erhalten und ihre Funktionen wiederherzustellen –  nicht nur wegen des Hochwasserschutzes, sondern auch wegen ihrer Fähigkeit zum Nährstoffabbau, ihrer Bedeutung im Kohlenstoffkreislauf und für den Erhalt der Artenvielfalt.

Nur noch 32 Prozent
der Auen vorhanden

Mittlerweile sind in Deutschland laut IGB nur noch 32 Prozent der Auen vorhanden. Die restlichen 68 Prozent seien durch Deichbau von den Flüssen abgetrennt, entwässert und zur Landwirtschaft oder für Siedlungen genutzt worden. „Deichbau und Entwässerung, die lokal sinnvoll waren, haben durch ihre flächenhafte Umsetzung dazu geführt, dass heute ganze Landstriche anfälliger für Hochwasserereignisse sind. Die Moorgebiete Niedersachsens zum Beispiel verzeichnen durch die Entwässerung großflächige Absenkungen der Geländeoberfläche um ein bis zwei Meter“, so Pusch. Dadurch erhöhten sich dort die möglichen Überflutungshöhen.

Hochwasser als Naturereignis

„Hochwasser sind ganz natürliche Ereignisse in intakten Flusslandschaften, die über Jahrtausende eine einzigartige Artenvielfalt und widerstandsfähige Ökosysteme geschaffen haben. Sie sind sogar Voraussetzung für lebenswichtige Funktionen – zum Beispiel für die Grundwasserneubildung. Für einen nachhaltigeren Schutz vor Hochwasser sollten daher nicht nur technische Maßnahmen, sondern zunehmend naturbasierte Lösungen im Fokus stehen“, erklärte Sonja Jähnig, Abteilungsleiterin am IGB und Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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