Zwischenergebnisse zur Oder: Mehr als die Hälfte der Fische fehlt

Lemke: Salzeinleitung verringern und Fluss-Ausbau stoppen

Die Fischbestände in der Oder sind infolge der Umweltkatastrophe vom vergangenen Sommer um 53 bis 67 Prozent zurückgegangen. Das geht aus ersten Zwischenergebnissen des seit Februar 2023 vom BMUV geförderten Sonderuntersuchungsprogramms zur Umweltkatastrophe in der Oder (ODER~SO) hervor, die das Bundesumweltministerium (BMUV) und das Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) Ende Juni vorgestellt haben.

Zwar gebe es auch Anzeichen dafür, dass sich die Fischfauna in den nächsten Jahren erholen könnte, jedoch bestehe weiterhin die Gefahr, dass sich die Katastrophe wiederholt. Die giftbildende Brackwasseralge Prymnesium parvum, die sich inzwischen im gesamten untersuchten Flusslauf etabliert hat, könnte sich unter entsprechenden Bedingungen wie erhöhten Temperaturen, niedrigem Wasserstand und hohem Salzgehalt erneut massenhaft vermehren.

„Erholung und Renaturierung
der Oder unerlässlich“

Die Forschungsergebnisse belegten klar, dass das gesamte Ökosystem der Oder nach der Umweltkatastrophe vom Sommer 2022 nach wie vor stark geschädigt sei, erklärte Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne). „Mehr als die Hälfte aller Fische fehlt. Es gibt zwar Anzeichen für eine erste Erholung des Fischbestandes, aber jede weitere Belastung der Oder hätte dramatische Folgen, und das für einen sehr langen Zeitraum“, so die Ministerin. Das betreffe letztlich nicht nur die Lebewesen im Fluss, sondern auch die Menschen, die an und mit der Oder leben. Deshalb müssten auf der polnischen Seite sowohl die Salzeinleitungen angepasst als auch der Ausbau der Oder gestoppt werden. „Die Wissenschaft zeigt uns auf, dass dies zur Erholung und Renaturierung der Oder unerlässlich ist“. Auf allen Seiten ist Lemke zufolge ein Umdenken erforderlich, wie mit der Oder und Flüssen insgesamt umgegangen wird.

Risiko einer erneuten
Umweltkatastrophe besteht

Martin Pusch, Wissenschaftler am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und Projektleiter des Sonderuntersuchungsprogramms, sagte, die Ergebnisse der Befischungen zeigten, dass sich die Oder erholen könnte, wenn man sie lässt. Allerdings sei aktuell der Salzgehalt in der Oder so hoch, dass ein erhebliches Risiko einer erneuten Umweltkatastrophe wie im August 2022 bestehe.

Nach den Zwischenergebnissen des Sonderuntersuchungsprogramms sind die Fischbestände, die drastisch reduziert wurden, besonders betroffen. Nach Schätzungen des IGB sind bis zu 1.000 Tonnen Fisch im Fluss verendet. Um zu dokumentieren, wie viele und welche Fische überlebt haben und wie sich die Bestände entwickeln, führe das IGB regelmäßig wissenschaftliche Befischungen durch.

Erhebliche Einbrüche
bei Beständen und Biomasse

Die Ergebnisse zeigen erhebliche Einbrüche bei den Beständen und bei der Biomasse verschiedener Fischarten. So sei in der Mittleren Oder die Anzahl der Individuen in der Strommitte um durchschnittlich 67 Prozent gesunken, im Uferbereich um 64 Prozent. Die Biomasseverluste in diesem Flussabschnitt betrugen den Angaben zufolge 48 Prozent in der Flussmitte und 62 Prozent im Uferbereich. In der Unteren Oder betrugen die Rückgänge 53 Prozent der Individuen und 21 Prozent der Biomasse in der Flussmitte sowie 47 Prozent der Biomasse im Uferbereich, heißt es weiter. Demgegenüber habe die Fischdichte im Uferbereich der Unteren Oder sogar um 31 Prozent zugenommen, was durch einen überproportional hohen Jungfischanteil und die stromabwärts gerichtete Abwanderung des Fischbestandes während der Katastrophe erklärt werden könne.

Mittlere Oder deutlich stärker
betroffen als die Untere Oder

Damit sei die Mittlere Oder deutlich stärker betroffen als die Untere Oder, was wahrscheinlich an der geringeren Wasserführung und dem kleineren Flussquerschnitt liege. Die Befischungen zeigten auch, dass die in der Flussmitte lebenden Arten dramatischere Einbrüche zu verzeichnen hätten als ufergebundene Arten. Die Fischarten Güster, Stromgründling und Ukelei, aber auch Aland, Barbe, Kaulbarsch und Quappe hätten besonders hohe Verluste von 86 bis 100 Prozent erlitten.

Filtrierleistung der Muscheln fehlt

Muscheln und Schnecken seien durch die Umweltkatastrophe ebenfalls stark dezimiert. Die Auswirkungen des Massensterbens werden laut IGB noch über Jahre spürbar sein, da vor allem Großmuscheln nur sehr langsam wachsen. Zudem fehle nun im Ökosystem die Filtrierleistung der Muscheln, die sonst Nährstoffe und auch Algen aus dem Wasser filtern.

Anzeichen für mögliche Erholung

Trotz dieser „alarmierenden“ Ergebnisse gebe es auch Anzeichen dafür, dass sich die Fischbestände innerhalb einiger Jahre erholen könnten – vorausgesetzt, die Katastrophe wiederhole sich nicht. Denn trotz der teilweise starken Bestandseinbrüche sei keine Fischart vollständig verschwunden. Auch große Laichfische konnten den Angaben zufolge nachgewiesen werden. Das feuchte Frühjahr habe zudem sehr gute Bedingungen für die Fortpflanzung geschaffen, etwa weil Auenwiesen überflutet wurden und so als wertvolle Laichplätze und Brutaufwuchsgebiete zur Verfügung standen. Die Jungfische aus dem Frühjahr bräuchten nun zwei bis drei Jahre, um heranzuwachsen und sich fortzupflanzen. Erst wenn dies ungestört möglich ist, könnten sich die Bestände tatsächlich erholen. Besorgniserregend sei in diesem Zusammenhang, dass der Bau längerer und höherer Buhnen zugunsten der Schifffahrt die flusstypischen Sohlen- und Uferlebensräume der Oderfische zerstöre.

IGB: Einträge salzhaltiger
Abwässer deutlich reduzieren

Da die giftige Brackwasseralge Prymnesium parvum, deren Massenentwicklung im Sommer 2022 durch Einleitungen salzhaltiger Abwässer in die Oder ermöglicht worden sei, auf einen erhöhten Salzgehalt angewiesen ist, empfehlen die Forschenden des IGB als dringende Vorsorgemaßnahme, die Einträge salzhaltiger Abwässer in das Flusssystem der Oder deutlich zu reduzieren. Auch weniger Einträge von Pflanzennährstoffen und Schadstoffen würden das Risiko einer erneuten Massenentwicklung der Brackwasseralge verringern. Wegen der bestehenden Gefahr einer Wiederholung der Umweltkatastrophe in der Oder sei es außerdem wichtig, die vorhandenen Rückzugs-, Laich- und Aufwuchsgebiete der natürlichen Fischfauna zu erhalten.

Latente Gefahr einer
erneuten Massenentwicklung

Als Folge der Massenentwicklung habe sich die Alge inzwischen im gesamten untersuchten Flusslauf etabliert - das belegten Wasserproben von 20 Untersuchungsstellen, die das IGB monatlich nimmt und molekularbiologisch analysiert. Die Konzentration der Alge sei im Vergleich zum Vorjahr noch gering, nehme aber aktuell wieder stark zu. Seit März habe sie sich vervielfacht, und das entlang der gesamten Oder auf deutschem Gebiet. Die vom Menschen beeinflussten Umweltbedingungen seien demnach immer noch günstig für die Alge und es bestehe daher die latente Gefahr einer erneuten Massenentwicklung.

Umschwenken auf naturbasierte
Lösungen empfohlen

Um die Widerstandsfähigkeit des Flusses zu stärken, sei im Zuge der Klimakrise eine veränderte Bewirtschaftung empfehlenswert. Ein Umschwenken auf naturbasierte Lösungen bei Flussbau und Hochwasserschutz könnte laut IGB zum Beispiel den Rückhalt von Wasser und Schadstoffen unterstützen und wasserabhängige Lebensräume sichern. Das wäre unter anderem für die Wasser- und Landwirtschaft und somit für die Menschen vor Ort von zentraler Bedeutung.

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