UFZ-Analyse: Immer noch zu viele Chemikalien in den europäischen Gewässern

Chemikalienmix gefährdet vor allem wirbellose Organismen

|
|

Gelangen Chemikalien aus häuslichen Quellen über Kläranlagen, aus der Landwirtschaft und aus der Industrie in die Gewässer, wirkt sich dieser Eintrag negativ auf die Süßwasserökosysteme aus. Um mehr über die Belastung europäischer Flüsse herauszufinden, hat ein Forschungsteam des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) rund 450 Proben aus 22 europäischen Fließgewässern ausgewertet und dabei mehr als 500 Chemikalien gefunden, zum Teil in hohen Konzentrationen. Diese stellten insbesondere für wirbellose Tiere ein hohes Risiko dar, schreiben die Forschenden im Fachblatt Environment International.

Pflanzenschutzmittel, Industriechemikalien, Arzneimittel - die meisten von ihnen sowie deren Abbauprodukte finden sich nach dem Gebrauch irgendwann in Bächen und Flüssen wieder, stellt das UFZ fest. Ein Team von Umweltchemikern und Umweltchemikerinnen des UFZ hat deshalb den Angaben zufolge 610 Chemikalien, deren Vorkommen oder problematische Wirkung bekannt sind, genauer betrachtet und analysiert, ob und wenn ja in welchen Konzentrationen sie in den Fließgewässern Europas vorkommen - von großen Flüssen wie Elbe, Donau, Rhein über Ebro und Tajo auf der iberischen Halbinsel bis hin zu kleineren Fließgewässern in landwirtschaftlich geprägten Regionen Deutschlands.

Das Ergebnis nach der Auswertung von 445 Proben aus insgesamt 22 Flüssen: Die Forschenden konnten insgesamt 504 der 610 Chemikalien nachweisen. Insgesamt fanden sie 229 Pestizide und Biozide, 175 pharmazeutische Chemikalien sowie Tenside, Kunststoff- und Gummizusätze, Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS) und Korrosionsinhibitoren. In 40 Prozent der Proben wiesen sie bis zu 50 chemische Substanzen nach, in weiteren 41 Prozent zwischen 51 und 100 Chemikalien. In 4 Proben konnten sie sogar mehr als 200 organische Mikroschadstoffe belegen. Mit 241 Chemikalien stellten sie die meisten Substanzen in einer Wasserprobe der Donau fest.

N-Acetyl-4-aminoantpyrin
am häufigsten gefunden

Am häufigsten fanden die Umweltchemiker und Umweltchemikerinnen in den Proben N-Acetyl-4-aminoantpyrin. Der Stoff ist ein Abbauprodukt des Arzneimittelwirkstoffs Metamizol, der gute Dienste bei der Schmerzbehandlung in der Humanmedizin leiste, über dessen Auswirkungen auf Süßwasserökosysteme aber bislang kaum etwas bekannt sei. „Bei zahlreichen dieser Metabolite ist unklar, wie schädlich sie für die Umwelt sind. Da fehlt uns noch das notwendige Wissen", sagte die UFZ-Umweltchemikerin Saskia Finckh, Erstautorin der Studie.

Bei anderen Substanzen, die die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in den Gewässern entdeckten, seien die negativen Auswirkungen dagegen bereits erforscht. Einer der häufigsten dieser Stoffe ist Carbamazepin, ein Arzneistoff zur Behandlung von Epilepsie. In Gewässern sei er jedoch biologisch schwer abbaubar, beeinträchtige die Fortpflanzungsfähigkeit wirbelloser Tiere und verzögere die Entwicklung von Fischen. Der Stoff stehe deshalb bereits auf der Beobachtungsliste des Umweltbundesamts (UBA); erst einer von 23 weiteren vorgeschlagenen prioritären Stoffen, um die die EU-Wasserrahmenrichtlinie erweitert werden soll.

Mehr als 70 Chemikalien in den
Gewässern überschreiten die
Risikoschwellen für Wirbellose

Auch die Wirkung einiger anderer Substanzen, die ebenfalls oft in den Proben festgestellt wurden, sei bekannt. Häufig fanden die UFZ-Forschenden zum Beispiel die Insektizide Diazinon und Fipronil, die beide sehr schädlich für wirbellose Wasserorganismen seien. Insgesamt wurden den Angaben zufolge bei mehr als 70 Chemikalien in den Gewässern die chronischen Risikoschwellen für Wirbellose überschritten - das bedeutet, dass es bei anhaltender oder wiederholter Exposition etwa zu Entwicklungsstörungen kommen könne.

Viele der einzelnen organischen Mikroschadstoffe seien schon für sich gesehen ein Problem für Gewässer, allerdings komme noch ein weiteres Problem dazu: „Schwierigkeiten bereitet die Bandbreite der Chemikalien, die in die Gewässer eingetragen werden. Denn wir wissen noch viel zu wenig darüber, welche additiven Wirkungen diese Stoffe haben, wenn sie sich miteinander vermischen", erklärte Eric Carmona, Co-Erstautor und ebenfalls Umweltchemiker am UFZ. Um die Wirkung dieser Mischungseffekte auf die in den Fließgewässern lebenden Organismen einschätzen zu können, nutzten die Forschenden das Konzept des chemischen Fußabdrucks - ein quantitatives Maß für die Gefahr einer Beeinträchtigung der Wasserqualität - also konkret, welche Überlebenschance Wasserorganismen wie etwa Fische, Krustentierchen und Algen an einem untersuchten Standort haben. Berechnet werde der chemische Fußabdruck, indem die Konzentration einer Chemikalie an einem Standort ins Verhältnis zum erwarteten Effekt gesetzt wird. Anschließend werden laut UFZ die Werte für die nachgewiesenen Chemikalien addiert. Für jede dieser Organismengruppen gebe es einen wissenschaftlichen Grenzwert, bei dessen Überschreitung mit dem Verschwinden empfindlicher Arten aus dem Ökosystem gerechnet werden muss.

An 15 Prozent der untersuchten Standorte Risiko für Krebstiere akut

In 74 Prozent der untersuchten Proben werden die wissenschaftlichen Grenzwerte überschritten. Besonders hoch sei das Risiko für Krebstierchen: An 15 Prozent der untersuchten Standorte sei das Risiko für sie akut. Das bedeute, dass für die Tiere die Überlebenschance an diesen Standorten im Gewässer gering sei.

Die UFZ-Forschenden folgern aus ihren Ergebnissen, dass in den europäischen Gewässern trotz vieler Verbesserungsmaßnahmen in der Vergangenheit immer noch zu viele Chemikalien vorkommen und an viele Standorten Grenzwerte überschritten werden. „Unsere Daten zeigen zudem, dass nicht nur einzelne Substanzen, sondern vor allem die Vielzahl der Substanzen zu diesem Problem beitragen", bilanzierte Saskia Finckh.

Mehr Chemikalien in
Gewässerüberwachung aufnehmen

Notwendig sei deshalb zum einen, in der chemischen Gewässerüberwachung für die Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie noch deutlich mehr Chemikalien aufzunehmen, weil diese bislang nicht in der Umwelt bewertet werden. Zum anderen brauche es mehr Messdaten. Oft sei völlig unklar, welche Effekte Chemikalien in welcher Konzentration auf Organismen in den Gewässern haben, so Carmona. In diesen Fällen werde bislang auf modellbasierte Werte zurückgegriffen, die eine größere Unsicherheit als die gemessenen Effekt-Werte mit sich führten. „Und vor allem sollten wir bei der Bewertung von Chemikalien ihre Mischungen stärker in den Fokus nehmen“, sagte Finckh.

Die Proben wurden den Angaben zufolge zwischen 2016 und 2019 während verschiedener Probenahme-Kampagnen wie zum Beispiel dem Deutschen Kleingewässermonitoring (KGM), dem Joint Danube Survey 4 (JDS4), einer Probenahmekampagne der Internationalen Kommission zum Schutz der Donau (IKSD) in Kooperation mit dem EU-Projekt „Solutions“ sowie einer Elbe-Beprobung gesammelt.

Den Artikel „Mapping chemical footprints of organic micropollutants in European streams“ im Fachblatt Environment International finden Sie hier: link.euwid.de/gyqdk

- Anzeige -

- Anzeige -